Wie verliert ein Mensch seine Lebendigkeit?

oder: Das Drama des begabten Kindes

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"Das Drama des begabten Kindes"

ist der Titel eines Buches von Alice Miller, das Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger bei Suhrkamp erschien.

Mit einem „begabten Kind“ meint sie ein Kind, das die bewussten wie unbewussten Wünsche seiner Eltern erfüllt, weil es intuitiv spürt, dass es ihre Liebe und Zuwendung verliert, wenn es das nicht tut.

Seine Begabung führt deshalb dazu, dass es seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle und damit seine natürliche Lebendigkeit aufgibt. Die Folgen sind Selbstentfremdung, Gefühle von Einsamkeit, Angst, innerer Leere, Getriebensein, Schuld, Scham und Depressionen.

Aber wieso tut ein Kind das überhaupt?

Weil es von seiner Geburt an intuitiv spürt, dass die Eltern selbst unerfüllte Bedürfnisse haben und deshalb überfordert wären, würde es sich so zeigen, wie es sich wirklich fühlt. Eifersucht, Neid, Wut, Bedürftigkeit, Verlassenheit, Hilflosigkeit, Angst etc. darf es sich also nicht erlauben, wenn es geliebt werden möchte. Aber Zuwendung ist absolut überlebensnotwendig für jedes Kind.

Und nicht nur das: Ich gehe davon aus, dass jedes Kind davon abhängig ist, dass die ihn umgebenden Menschen nicht nur ihre Liebe zeigen, sondern ihm seine wahre Natur spiegeln. Dazu sind sie aber nur in der Lage, wenn auch sie als Kind ihre wahre Natur gespiegelt bekommen haben bzw. wenn sie sie im Laufe ihres Lebens wiederentdeckt haben.

Die Folgen

Da viele der grundlegenden Bedürfnisse des Kindes unbefriedigt bleiben, hungert es und leidet unsägliche Qualen. Aber vor allem verlernt es, sich selbst als Das wahrzunehmen und zu entdecken, was Es wirklich ist, sich auszuprobieren, Fehler zu machen etc. und bleibt dadurch - oft für sein ganzes Leben als Erwachsener - auf ein Gegenüber ausgerichtet, d. h. es nabelt sich nicht - wie ein gesättigtes Kind - ab, sondern bleibt von der Bestätigung, Anerkennung und Zuwendung Anderer abhängig und ist nicht in der Lage, mit sich alleine glücklich zu sein.

Nur: Erwachsene können und wollen diesen Hunger nicht, nur teil- oder zeitweise stillen. Was allerdings in Beziehungen zu Erwachsenen geschehen kann: Sie können ihm diesen spiegeln und ihm dadurch helfen, ihn zu erkennen (siehe auch das Kapitel „Was ist der Sinn von Beziehungen?“).

Da viele Menschen dies aber nicht erkennen, ja, gar nicht erkennen wollen, dass es nicht mehr möglich ist, die verpasste Kindheit genau so nachzuholen, wie sie es sich wünschen, wird das "erwachsene Kind" in seiner scheinbaren Not und in dem Glauben, dass das die einzige Möglichkeit ist, die eigenen Kinder oder andere von ihm abhängige Personen dazu manipulieren, seine Bedürfnisse zu befriedigen - obwohl das nicht Aufgabe dieser Menschen ist.

Das heißt Generationen vernachlässigter Kinder gaben ihre unstillbare Sehnsucht und die damit zusammenhängenden Bewältigungsstrategien (Zerstreuung, Alkohol-, Nikotin-, Liebes-, Ess-, Drogen- oder Arbeitssucht, Gewalt, Konsum, Co-Abhängigkeit etc.) an ihre Kinder weiter bzw. manipulieren ihre Partner und andere nahestehende oder abhängige Personen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

Lösungsansätze

Die einzige Möglichkeit, diesen Teufelskreis aufzulösen ist, das Geschehene eigenverantwortlich und bewusst aufzuarbeiten. Wenn das nicht bewusst geschieht, bleibt der Zwang, die damit verbundenen Schmerzen, Traumata und unterdrückten Bedürfnisse immer wieder zu re-inszenieren und zu durchleben.

Wesentlich für den Heilungsprozess ist deshalb, die bisher unwillkommenen Gefühle und Körperempfindungen wahr- und anzunehmen und die Strategien aufzudecken, mit denen diese weggedrückt werden und damit unterbrochene Wachstumsprozesse zu Ende zu bringen.

Zudem besteht die Möglichkeit, die verpasste Zuwendung im Rahmen von Einzel- oder Gruppenarbeit, Satsang oder anderen Selbsterfahrungsangeboten bis zu einem gewissen Maße nachzuholen.

Das hat gegenüber dem Versuch, es im Alltag, durch den Partner, die eigenen Kinder oder andere nahestehende, abhängige Personen bzw. durch eine Art Rückzug von der Welt nachzuholen, den Vorteil,

1. dass die Klientin (*ich verwende hier der Einfachheit halber im Folgenden die weibliche Form) reichlich Anerkennung, echtes (nicht erpresstes) Verständnis, Spiegelung, Respekt und liebevolle Zuwendung erfährt,

2. dass sie es durch eine Begleiterin erfährt, die idealerweise schon selbst einen weiten Weg in diesem Prozess gegangen ist und noch immer geht, ja, die vielleicht sogar Erwachen erfahren hat und sie deshalb wirklich von Anfang bis Ende begleiten und in große Tiefen führen kann,

3. dass es offen geschieht und sie sich dabei all ihrer Verhaltensweisen, Muster, Gefühle und Bedürfnisse nach und nach bewusst wird. Bewusstsein erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass alte Themen immer schneller wiedererkannt werden und deshalb nicht erneut re-inszeniert werden müssen,

4. dass niemand dabei missbraucht oder geschädigt wird und sich sich dabei auch selbst nicht immer wieder alte Wunden zufügt,

5. dass das - so sehe ich es - der direkteste, effektivste und nachhaltigste Weg ist, die "alten" Bedürfnisse zu befriedigen, aufzuarbeiten, satt, lebendig, bewusst und damit erwachsen und unabhängig zu werden.

6. Und es geschieht auf Augenhöhe, da die Klientin eine offen vereinbarte Gegenleistung dafür erbringt und die Zuwendung nicht manipulativ erpresst oder eingefordert wird bzw. die Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse an andere abgegeben wird.

7. Das wiederum stärkt das Vertrauen in die natürliche Fähigkeit, ehrlich und auf Augenhöhe für sich und ihre Bedürfnisse zu sorgen - und damit auch ihre Selbstachtung und Würde.

Die Begleiterin ist dabei häufig noch einmal das Gegenüber, das die Klientin nie in ihren Eltern hatte (mitfühlend und offen, verstehend, verfügbar, wach, lebendig, transparent, authentisch, ehrlich, ohne unbegreifliche, undurchsichtige Widersprüche, wahrhaftig, geduldig, aus der Stille sprechend und agierend) und spiegelt ihr sowohl ihre bisherigen Überlebens- und Bewältigungsstrategien sowie - insoweit selbst bereits realisiert - ihre wahre Natur.

Desidentifikation und Freiheit

Das ermöglicht ihr, ihre natürliche Lebendigkeit und Spontaneität, ihr wirkliches Wesen wiederzufinden, sich all das in einem geschützten Umfeld zu erlauben, was sie sich bisher meist unbewusst verbot, offen zu projizieren, sich kennenzulernen und auszuprobieren, zu testen, ob sie wirklich sie selbst sein darf, kann und möchte, die Erfahrung bedingungsloser Liebe zu machen, um letztendlich zu entdecken, dass sie gar nicht mehr dieses kleine, verlassene, verleugnete, kindliche Selbst ist - mit dem sie sich identifiziert - sondern eine Erwachsene und vor allem: bedingungslose Liebe, endlos weiter Raum, Gott, der Buddha - wie immer man es nennen mag.

All das braucht sehr viel Mut, befreit aber letztendlich auch von der sehnsüchtigen, nicht mehr zu erfüllenden Hoffnung wie von dem Zwang, doch noch die verstehende, empathische, sich selbst aufopfernde Mutter außerhalb von sich selbst zu finden bzw. sie sich durch Andere verfügbar machen zu können und zu müssen.

Ich selbst habe diesen Prozess als zutiefst ernüchternd und befreiend erlebt - befreiend insofern, dass ich dadurch in der Lage war, zu erkennen, dass ich nun erwachsen bin und dass es jetzt meine Aufgabe ist, mich zu halten, zu bestätigen, anzuerkennen, zu verstehen bzw. andere freundlich, voller Respekt und auf Augenhöhe darum zu bitten, mir diese Bedürfnisse zu erfüllen. Das ist für mich wahre Freiheit, denn sie beinhaltet die Freiheit von der Vergangenheit, ihrer kontinuierlichen Re-Inszenierung, von Angst, Schuld, Scham, Depression, Getriebensein, Machtstreben und zugleich die Freiheit, alles zu fühlen und zu sein, nicht nur die Gefühle, Zustände, Gedanken und Verhaltensweisen, von denen ich gelernt habe, dass sie "gesellschaftsfähig" sind.

Die Gefahr der Manipulation in der Begleitung

Mir als Begleiterin ist die Schaffung eines solchen Schutzraumes allerdings nur möglich, wenn ich mich selbst bereits sehr weitgehend ent-wickelt, d. h. meine eigenen Themen bereits weitgehend klären konnte bzw. die Themen, die eine solche Begleitung in mir weckt, mit mir selbst oder anderen Begleiterinnen/Freunden kläre, da ich sonst dasselbe mit dem Klientinnen tue, was unzählige Eltern mit ihren Kindern oder Vorgesetzte mit ihren Angestellten getan haben: Ich manipuliere sie für die Befriedigung meiner Bedürfnisse.

Diese Versuchung ist nicht zu unterschätzen, denn wer hört einem schon so aufmerksam und aufopferungsvoll zu bzw. gibt so aufrichtig und offen sein Inneres preis und schaut einem aus so bewundernden Augen an, wie es eine Klientin tut.

Ich selbst finde es zudem elementar, dass die Begleiterin nicht nur über weitgehende therapeutische Kompetenz verfügt, sondern auch spirituell einen weiten Weg gegangen, idealerweise, dass bereits ein erstes oder mehrmaliges Erwachen geschehen ist. Denn eine Begleiterin kann eine Klientin immer nur so weit begleiten wie sie selbst gegangen ist.

Allerdings zeigt mir der Alltag, dass die Klientin ihre Heilerin findet und dass sich Therapeutin und Klientin gewöhnlich ideal ergänzen insofern, dass eine Therapeutin, die noch viele offene Themen hat, auch genau die Klientinnen anzieht, die zu ihr passen und sie dazu einladen, immer wieder neu hinzusehen und sich weiterzuentwickeln.

Anders ausgedrückt: So wie Eltern ihre bedürftigen Themen zwangsläufig mit ihren Kindern aufarbeiten (siehe hier auch die Autorin Alice Miller oder der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi mit ihren leiblichen Kindern), so lässt sich vermutlich nie ganz vermeiden, dass auch Therapeutinnen ihre Themen mit ihren Klientinnen aufarbeiten.

Allerdings kann man es auch umgekehrt sehen: Ich kenne viele Fälle, in denen ich mich ehrlich fragte, wer denn nun wen erzieht. ;)

(aus: "Wie geht (Selbst)Liebe wirklich?" von Gabriele Rudolph)

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