L(i)eben oder Überleben - Wo ist die Grenze? 

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Verschiedenste Wissenschaftler, allen voran Sigmund Freud und Konrad Lorenz, entwarfen das Bild eines von Aggression getriebenen Menschen, eines Jägers, dem die Lust zur Gewalt und die Freude am Krieg eigen ist und dem es, da reichlich ausgestattet mit „egoistischen Genen“, vor allem ums Überleben geht, nicht um Liebe, Gemeinschaft, Menschlichkeit noch um Kooperation. Diese Vorstellungen erfreuen sich leider bis heute großer Beliebtheit, obwohl sie längst durch neueste Forschungen widerlegt wurden.

 

Das Gefährliche daran: Vorstellungen, denen wir ungeprüft Glauben schenken, werden leicht zu Überzeugungen. In anderen Worten: Wir leben und verhalten uns dann, als seien sie wahr.

 

Aber es gibt auch Menschen, die es sich nicht so leicht machen. Der in Psychoneuroimmunologie und Psychiatrie habilitierte Arzt Joachim Bauer war mit den Vorstellungen seiner Forscherkollegen nicht zufrieden und machte sich an die Arbeit. Sein Schluss: „Eine sorgfältige Überprüfung dieser Mythen ergibt ein völlig anderes Bild: Unsere evolutionären Vorfahren waren weder blutrünstige Jäger noch Mörder, sondern überwiegend vegetarisch lebende Wesen, deren Überleben nur deshalb gelang, weil sie, begleitet von einer beachtlichen Zunahme ihres Gehirnvolumens, nicht nur eine überlegene Intelligenz, sondern vor allem ein phänomenales soziales Kooperationsverhalten entwickelten“, ja, er spricht aufgrund seiner Untersuchungen vom Menschen als ein „in seinen Grundmotivationen primär auf soziale Akzeptanz, Kooperation und Fairness ausgerichtetes Wesen.“ (Bauer, 2013, S. 10f u. 26).

 

Als ich das das erste Mal las, dachte ich: „Hmm…? In gewisser Weise kann ich das natürlich bejahen. Denn mir sind Akzeptanz, spielerische Kooperation und Fairness sehr wichtig. Und natürlich kenne ich auch andere Menschen, bei denen ich das ebenso erlebe. Zugleich scheint mir das, was ich so in den Nachrichten höre und auch manchmal im Alltag erlebe, keineswegs als besonders freundlich, geschweige denn fair.

 

Kurz: Wenn wir Menschen, evolutionär wie neurobiologisch betrachtet, zutiefst kooperative, soziale und auf Gleichbehandlung ausgerichtete Wesen sind, warum gibt es dann so viel Krieg, Mord und Totschlag, Armut, Ungleichheit, ja, Ausgrenzung auf der Welt? Und warum sieht es eher so aus, als vereinzeln die Menschen immer mehr und als nähmen Konkurrenzdenken und narzisstisches Ellbogenverhalten enorm zu?

 

Um diese Frage zu klären, müssen wir, so sehe ich es, erst einmal den Sinn von Aggression und auch die Entstehungsgeschichte menschlicher Gewalt verstehen.

 

Somit: Wozu dient Wut eigentlich?

 

Zahlreiche Forschungen belegen, dass Aggression die Funktion hat, Schmerz, Verletzungen und Übergriffe abzuwehren, das heißt unsere Unversehrtheit zu bewahren.

 

Logisch, oder?

 

Dabei möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass es hier nicht nur um die Abwehr körperlichen Schmerzes geht, sondern auch und vor allem um psychischen Schmerz. Denn, zumindest in Deutschland, ist unsere körperliche Unversehrtheit nicht mehr so häufig bedroht – außer durch den unachtsamen Umgang mit Viren vielleicht 😊.

 

In anderen Worten: Sobald uns eine Situation, die Handlungen oder Worte eines womöglich sogar geliebten und geschätzten Gegenübers verletzen respektive überfordern, verspüren wir Schmerz und werden aggressiv. Joachim Bauer spricht hier auch vom „Gesetz der Schmerzgrenze“ (Bauer 2013, S. 64).

 

Aber was genau verursacht diesen Schmerz bzw. wodurch wird die Schmerzgrenze erreicht oder sogar überschritten?

 

Nun, 1. wenn man das, was uns besonders viel bedeutet, missachtet oder 2. das, was uns ein besonderes Wohlbehagen verschafft, weggenommen wird respektive wegnehmen möchte.

 

Aber was verschafft uns Wohlbehagen? Was macht uns glücklich?

 

Zu dieser Frage hat unser Gehirn ein klares Wort mitzureden. Denn die Motivationssysteme unseres Gehirns schütten dann Glückshormone aus, wenn wir Vertrauen, Zuwendung, Kooperation und Unterstützung, kurz: wenn wir positive Beziehungsqualitäten erfahren. Zudem besitzt es eine Art biologisch unterstützten Messfühler für faires oder unfaires Verhalten und ist auf eine gerechte Ressourcen- wie Eigentumsverteilung ausgerichtet.

In anderen Worten: Unser Gehirn belohnt, zumindest bei durchschnittlich gesunden Menschen, freundliches, hilfsbereites Verhalten - selbst wenn wir nicht unmittelbar etwas davon haben!

 

Höchst erstaunlich, oder?

 

Da stellt sich doch sofort die Frage, wie es dazu kam bzw. warum es das tut?

Nun, diese Funktion des Gehirns hat etwas damit zu tun, dass kooperative Menschen – entwicklungsgeschichtlich gesehen - ein deutlich längeres Leben zu erwarten hatten - eine Tatsache, die ich auch heute noch für gültig halte. Anders ausgedrückt: Zusammenhalt und Kooperation sicherten unser Überleben, wohingegen ein Verstoßen werden aus einer Gruppe über Jahrmillionen den sicheren Tod bedeutete.

 

Kooperatives Verhalten ist also neurobiologisch tief in uns verankert und Handlungen, die dem zuwiderlaufen, verursachen uns Unbehagen. Michael Tomasello und andere Forscher konnten sogar zeigen, dass sich diese Neigung bereits bei 14 bis 18 Monate alten Kindern zeigt: „Young children are naturally empathetic, helpful, generous and informative“ (Übers.: Kleine Kinder sind von Natur aus empathisch, hilfsbereit und geben gerne Informationen), auch dann, wenn es sich bei den Empfängern ihrer Zuwendung um Fremde handelt und keinerlei Belohnung winkt (Tomasello und Warneken 2008 und 2009).

 

Wenn wir hingegen Ausgrenzung, Demütigung, Verachtung oder Respektlosigkeit erfahren oder nahen sehen – sei es uns selbst oder Menschen gegenüber, die uns wichtig sind - fühlen wir uns zutiefst bedroht, unsere neurobiologische Schmerzgrenze wird berührt und der „Aggressionsapparat“ motiviert (Bauer 2013, S. 53ff). Wir verspüren ein starkes Bedürfnis danach, uns und andere, das heißt die Gemeinschaft, der wir uns zugehörig fühlen, zu schützen.

 

In anderen Worten: Wenn Schmerzen körperlicher wie psychischer Art drohen, kommt es im Gehirn zu einer Mobilisierung der Angst- (Mandelkerne) und Ekelzentren (Insulae) in den Schläfen. Je nachdem wie stark die Bedrohung ist, werden auch das Stresszentrum (Hypothalamus) und das vegetative Erregungszentrum (Hirnstamm) aktiviert.

 

Allerdings folgt nun keine sofortige aggressive Reaktion wie sie bei einem Reptil zu erwarten wäre. Vielmehr checkt beim Säugetier Mensch der Präfrontale Kortex (Vorderhirn) vorher noch ab, welche Konsequenzen sich aus welcher Art von aggressiven Reaktion für uns ergeben und wie sich das Gegenüber fühlen würde, wenn wir tun, was wir am liebsten sofort täten. Dabei wird der aggressive Impuls meistens abgemildert oder stark gebremst. Dieses Einschätzen und Abwägen einer Reaktion geschieht in Sekundenschnelle und sobald eine Entscheidung getroffen wurde, taucht die „Impulsbremse“ wieder ab und wir treten in Aktion - oder auch nicht.

 

Fassen wir noch einmal zusammen: Aggression, bzw. die daraus resultierende Gewalt, geschieht also um den Schmerz sozialer Ausgrenzung, Zurückweisung, Verachtung oder Übergriffe für uns und unsere Lieben zu vermeiden, respektive, insoweit bereits geschehen, zu korrigieren.

 

Wer dies nicht tut, das heißt, wer die entstandenen Aggressionen unterdrückt, schadet sich langfristig selbst und wird häufig auch körperlich wie psychisch krank. Es ist uns also ein wesentliches Bedürfnis, auch und gerade als kooperative, auf Gemeinschaft und Liebe ausgerichtete Wesen, uns und die Menschen, die wir lieben, zu schützen.

 

So gesehen machen bisher womöglich unverständliche Aggressionen durchaus Sinn, oder? Aber vor allem finde ich es hilfreich, mir all dem sehr bewusst zu sein, da ich dadurch das Verhalten anderer besser einschätzen und auch selbst damit anders umgehen kann.

 

Aber wenn Aggression die Funktion hat, unsere körperliche wie psychische Unversehrtheit sowie Beziehungen zu schützen, weshalb kommunizieren die Menschen nicht genau das? Warum sagen sie nicht einfach „Ich bin wütend, weil du mich ausgegrenzt, beleidigt oder zurückgewiesen hast. Bitte, lass uns eine Lösung finden, mit der ich auch glücklich sein kann“? Wie kommt es dabei überhaupt zu gewalttätigen Übergriffen, zu Mobbing, Mord oder Krieg?

 

Nun, erst einmal kann Ausgrenzung ganz unterschiedliche Formen annehmen: Es kann sich um eine Zurückweisung, um die Verweigerung von Akzeptanz oder Respekt handeln, um Rufschädigung oder Mobbing. Auch der Verlust einer wichtigen Beziehung, z. B. durch Fremdgehen, Trennung oder Tod, der Mangel an persönlichen Kontakten, drohende oder schon bestehende Arbeitslosigkeit, Vertreibung sowie Armut – vor allem angesichts vom Reichtum anderer - können als Ausgrenzung erlebt werden und heftige Wut auslösen.

 

So töten Männer ihre Partnerinnen vor allem nach einer Zurückweisung oder wenn eine Trennung droht. Kinder wie Jugendliche verhalten sich tendenziell aggressiv wenn keine liebevollen Beziehungen mit den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen möglich sind, sie wenig bis keine Anerkennung erfahren, sich gedemütigt, gehänselt oder verlassen fühlen und nicht wissen, was sie dagegen tun können, da Beziehung ja etwas ist, was von anderen Menschen, bei Kindern und Jugendlichen vor allem von dem Entgegenkommen, Verständnis und Einfühlungsvermögen der Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen abhängig ist.

 

Das heißt, hier kommt auch das Gefühl von Hilflosigkeit hinzu. Wenn es uns so scheint, dass wir an einer Situation nichts ändern können und uns ausgeliefert fühlen, erhöht sich der Eindruck, bedroht zu sein und damit die daraus resultierende Wut. Man könnte hier auch von einer „unkontrollierbaren Stressreaktion“ (Hüther 2003, S. 99) sprechen, wobei allerdings die individuelle Schmerzgrenze sowie die Regulationsfähigkeit angesichts der aufsteigenden Aggressionen bei jedem Menschen unterschiedlich sind.

 

Denn Menschen, die als Kind durch Gewalt traumatisiert wurden, reagieren als Erwachsene später tendenziell schneller mit Aggression als Kinder, die aus einem fürsorglichen, geborgenen Elternhaus kommen oder sie unterdrücken sie schneller, was häufig wiederum zu Depressionen, Ängsten bis Panikattacken oder anderen psychischen Störungen führt. Traumata senken zudem die Stresstoleranz und damit die Schmerzgrenze, ab der wir uns für aggressive Handlungen, Rückzug oder einen Kontaktabbruch entscheiden. Auch die Selbstregulationsfähigkeiten eines Menschen können durch Entwicklungs- ebenso wie Schocktraumata häufig nicht ausreichend entwickelt werden, wodurch die Neigung zu Aggressionen wie Kontaktabbrüchen ebenfalls tendenziell erhöht ist - sei es, dass sie sich gegen andere wenden oder gegen sich selbst, oder zeitweise unterdrückt werden, dann aber oft zu einer Zeit und an einem Ort ausbrechen, wo sie nicht hingehören (Aggressionsverschiebung).

 

Dabei gibt es auch Geschlechtsunterschiede. Frauen tendieren mehr dazu, Aggressionen indirekt, das heißt passiv aggressiv auszudrücken indem sie sich heimlich verweigern, beleidigt zurückziehen, hinter dem Rücken derer lästern, über die sie sich ärgern, Gerede verbreiten und so den Ruf eines Menschen zerstören oder indem sie ihre Wut gegen sich selbst richten, depressiv werden, Schuldgefühle und Angststörungen entwickeln respektive die Aggressionen somatisieren. Männer richten ihre Wut hingegen stärker und unmittelbarer nach Außen und scheinen auch nicht so gute Autoregulierer zu sein wie Frauen. Das traurige Resultat: 90 Prozent aller schweren Gewalttaten werden durch Männer ausgeübt (Strüber, Lück und Roth 2008).

 

Zudem haben Menschen, die als Kind wenig angenehme, vertrauenswürdige und liebevolle Bindungserfahrungen mit ihren engsten Bezugspersonen gemacht haben, später auch große Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen und damit liebevolle, unterstützende Beziehungen einzugehen (siehe hierzu auch meinen Text über „Traumatische Bindungsstile“). Das heißt, sie neigen schneller dazu, sich abgelehnt zu fühlen und dadurch scheinbare Ausgrenzungserfahrungen zu machen, die vielleicht gar keine sind. Man könnte hier auch von einer Re-Inszenierung alter Erfahrungen sprechen.

 

Hier tritt Wut also vor allem als eine alte, einmal konservierte Wut auf, die nun ebenfalls in Situationen ausbricht, in denen sie gar nicht oder wenig angemessen ist (Aggressionsverschiebung).

 

In so einem Fall verpufft sie beziehungsweise wird destruktiv und erfüllt nicht ihre eigentliche Funktion. Denn Aggression dient, neurobiologisch gesehen, dem Erhalt respektive der Wiederherstellung von Bindung oder dem Vermeiden eines Bindungsverlustes und steht damit, so Joachim Bauer, im Dienst der Motivationssysteme des menschlichen Gehirns.

Damit Aggression also auch wirklich erreicht, wozu sie neurobiologisch gedacht ist, muss sie konstruktiv, angemessen und dort ausgedrückt werden, wo sie hingehört. Und dies muss durch verbale Kommunikation sowie angemessene, empathische Aktionen geschehen, die das Gegenüber nicht bedrohen, sein Gefühl für Würde und Fairness nicht verletzen und natürlich sowohl die Bedürfnisse des Senders wie des Empfängers berücksichtigen.

 

Und es braucht die Bereitschaft des Empfängers empathisch zuzuhören und sich mit den vielleicht manchmal unbequemen Bedürfnissen seines Gegenübers auseinanderzusetzen.

(aus: "Das innere Kind und die Stille" von Gabriele Rudolph)

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